Die Geschichte Otterstadts
Die heutige Pfalz war vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine geradezu klassische Auswanderungsregion. Im 19. Jahrhundert nahm die Amerikaauswanderung aus diesem Gebiet, bedingt durch Übervölkerung, Hungerkatastrophen und die Reaktion auf die politischen Ereignisse von 1832 und 1848/49, zeitweise die Ausmaße einer Massenbewegung an. Bei den meisten Auswanderern überwogen wirtschaftliche Gründe. In der Vorderpfalz, so auch in Otterstadt, galt im Erbrecht die Realteilung, d. h. der Bauernhof wurde durch die Anzahl der Kinder geteilt, wobei diese verkleinerten Bereiche die nachfolgenden Familien nicht ausreichend oder gar nicht ernähren konnten.
Verstärkt wurde die Entwicklung durch den Bevölkerungsanstieg und schlechte Ernten infolge harter Winter und einer Reihe von Überschwemmungskatastrophen. Die Grundlage, sich von der Landwirtschaft zu ernähren, war nicht mehr gegeben, zudem rationalisierte die beginnende Industrialisierung manche Erwerbszweige weg oder sorgte für die Reduzierung der Zahl der Arbeitskräfte. In den 1840er Jahren hatte sich in der etwa 1300 Einwohner zählenden Gemeinde Otterstadt, bedingt auch durch den Wegfall zahlreicher Arbeitsplätze nach dem Abschluss der Tullaschen Rheinbegradigung, die Zahl der Vermögenslosen derart erhöht, „so dass selbst bei dem großen Opfer, welches die zum Glücke bemittelte Gemeindekasse der Armenkasse bringt, und die Almosen an Brot und sonstigen Naturalien, welche die Bemittelten spenden, nicht mehr reichen, um die gestellten Ansprüche zu befriedigen, und die Otterstadter Armen sind daher noch zur Plage der benachbarten Orte (geworden).“
„Zur Abstellung dieses Übelstands“ beabsichtigte der Gemeinderat in seinem Beschluss vom 5. Februar 1852, etwa 200 der ärmsten Dorfbewohner auf Kosten der Gemeindekasse die Auswanderung nach Amerika zu ermöglichen; die Kosten hierfür schätzte er auf ca. 10 500 Gulden. Nachdem er einen praktikablen Plan für die Tilgung der aus diesem Projekt erwachsenden Schulden bis 1856 vorgelegt hatte, gab die Regierung der Pfalz im Juni 1852 ihre Zustimmung.
Um die Fragen der Transports- und Überfahrtsbedingungen kümmerte sich das Speyerer Landkommissariat, der Vorgänger des späteren Landratsamts. Dieses versuchte den Ausreisewilligen, deren Zahl sich inzwischen auf 358 Personen (40 Familien) – wobei über die Hälfte der Familienvorstände Tagelöhner und fast alle von ihnen (37 von 40) in den vergangenen fünf Jahren als Holzfrevler verurteilt worden waren – erhöht hatte, auf Vorschlag des „Zentralvereins für die deutschen Auswanderungs- und Kolonisationsangelegenheiten in Berlin“ Brasilien als Ziel näherzubringen. Die Auswanderer bestanden aber einstimmig darauf, nach Nordamerika befördert zu werden, weil sie dort größtenteils Verwandte hatten und ihnen Brasilien zu unbekannt war.
Das Landkommissariat ging schließlich darauf ein, begrenzte aber die Zahl der Personen, denen auf diese Weise die Amerikaauswanderung ermöglicht wurde, auf 184 und legte Bremen als Einschiffungshafen fest. Dorthin brachen Mitte Juli 1852 im Beisein des die Auswanderer als behördliche Aufsichtsperson bis zum Einschiffungshafen begleitenden Landkommissariats-Aktuars Pfeufer, der darüber später einen ausführlichen Bericht verfasste, insgesamt 179 (32 Familien, nach Pfeufers Bericht 184) Personen auf. Per Dampfschiff und Eisenbahn erreichten sie über Ludwigshafen, Mainz, Bingen und Köln(-Deutz) schließlich Bremen, von wo sie auf Kähnen nach Bremerhaven, dem – mit 7,2 Millionen emigrierenden Menschen zwischen 1830 und 1974 – größten Auswandererhafen Europas, verschifft wurden.
Im dortigen, erst drei Jahre zuvor eröffneten „Auswandererhaus“ am Alten Hafen mussten sie, da ihnen das zugesagte deutsche Schiff nicht mehr zur Verfügung stand, lange auf ihre Abfahrt warten. Nach 30tägiger Reise mit dem aus dem britischen Seehafen Hull herbeigeholten englischen Segelschiff „Arthur“ kamen sie erst Mitte November im kanadischen Quebec, dem vertraglich festgelegten Ausschiffungshafen, an.
Von dort konnten sie aus Geldmangel nicht zu dem von ihnen ausgesuchten Ansiedlungsort, ins amerikanische Rochester am Ontariosee, weiterreisen, sondern wurden durch die kanadischen Einwanderungsbehörden zunächst nach Hamilton befördert.
Durch die Otterstadter Auswanderung kamen auch andere pfälzische Gemeinden, darunter das benachbarte Waldsee, auf die Idee, den als sozialen Ballast empfundenen Ortsarmen durch einen Zuschuss aus der Gemeindekasse die Auswanderung nach Übersee zu erleichtern.
Da die Genehmigung hierzu nach Beschluss der Kreisregierung aber nur erteilt wurde, wenn das Projekt aus den Überschüssen des Gemeindehaushalts finanziert werden könne und die Gemeinde sich deswegen nicht verschulde, blieben im Falle Waldsees verschiedene Versuche dazu ebenso ergebnislos wie in den anderen betroffenen Gemeinden, darunter dem westpfälzischen Schopp, wo es sogar Pläne gab, die gesamte Einwohnerschaft nach Amerika umzusiedeln!